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Grausamer Krieg gegen den eigenen Körper

Meldung vom 04.01.2008 - Die psychische Erkrankung ist nur schwer behandelbar: Menschen, die unter einer artifiziellen Störung leiden, stehen unter dem bizarren Zwang, sich selbst schreckliche körperliche Schäden zuzuführen. Um in der Klinik bleiben zu können, riskieren sie sogar ihr Leben und nehmen Verstümmelungen in Kauf.

Die Diagnose war für die behandelnden Ärzte schwer zu ertragen. Eine junge Frau nahm sich wiederholt Blut ab und kam in lebensbedrohliche Zustände von Blutarmut. In der Folge stellten sich Herzrhythmusstörungen ein. Die Patientin musste intensivmedizinisch behandelt werden. In der Klinik fiel auf, dass die Frau außerdem wiederholt unter Abszessen litt. In den Abszessabstrichen wurden Kotbakterien gefunden. „Da kam der Verdacht auf, dass die Patientin sich selbst verletzt“, sagt die Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Bürgerhospital Stuttgart, Annegret Eckhardt-Henn.

Die Frau litt unter einer artifiziellen Störung, einer komplexen psychischen Krankheit. Der Fall ging gut aus. In enger Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachgebieten gelang es den Ärzten, die Patientin zu einer Therapie in einer psychosomatischen Klinik zu bewegen. Dort wurde sie mehrfach über mehrere Monate behandelt. Langsam stellte sie sich ihrer schwerwiegenden Erkrankung. „In anderen Fällen laufen die Behandlungen nicht so gut“, sagt Eckhardt-Henn. Es kann zu schwersten körperlichen Folgeschäden oder auch zu tödlichen Komplikationen kommen.

Menschen, die unter einer artifiziellen Störung leiden, werden zu einem völlig absurden, grausamen Krieg gegen sich selbst gezwungen. Sie nehmen heimlich Pharmaka ein, um das Herz zu schädigen, verschmutzen Wunden, um die Heilung zu verzögern, oder spritzen sich Giftstoffe unter die Haut. „Diese schwer gestörten Menschen riskieren oft sogar ihr Leben, nehmen bleibende Schäden oder Verstümmelungen hin, um im Krankenhaus zu bleiben“, sagt die Privatdozentin, die sich seit vielen Jahren mit dieser Krankheit beschäftigt.

Die Störung, die fälschlicherweise oft als Münchhausen-Syndrom bezeichnet wird, kommt nach Angaben der Ärztin bei 0,8 bis 2,5 Prozent aller deutschen Allgemeinpatienten vor. Nur etwa ein Drittel der Betroffenen wird aber fachspezifisch behandelt. Bei der Hälfte der Kranken wird die Erkrankung gar nicht erkannt. „Die Dunkelziffer ist möglicherweise höher“, sagt Frau Eckhardt-Henn.

Betroffene zeigen Bereitschaft zu operativen Eingriffen

Das Vorgehen der Patienten ähnelt sich meist. Die medizinisch vorgebildeten Kranken suchen sich große Kliniken aus. Sie rufen selbst Krankheitssymptome hervor und schildern sie so überzeugend und glaubhaft, dass die Ärzte gar nicht anders können, als sie einzuweisen. Auffallend ist die Bereitschaft zu operativen Eingriffen und ihr Desinteresse an einer schnellen Gesundung. „Zwischen Arzt und Patient entsteht eine emotionale Verstrickung“, sagt Eckhardt-Henn.

Der Arzt will dem Kranken mit allen Mitteln helfen. Der Verdacht, dass die Krankheit nur vorgetäuscht beziehungsweise selbst erzeugt sein könnte, komme den wenigstens Medizinern, sagt die Medizinerin. Aus Unkenntnis oder aus Angst vor der Blamage blieben viele Fälle über Jahre hinweg unentdeckt. Werde der Kranke aber vom Arzt mit der möglichen Selbstschädigung konfrontiert, suche er sich ein neues Krankenhaus aus.

Menschen mit artifiziellen Störungen sind psychisch schwer krank. Nach Angaben der Universität Düsseldorf leiden sie unter Persönlichkeitsstörungen, Abhängigkeitserkrankungen oder depressiven Störungen. Bei den Selbstverletzungen sind sie häufig in einem bewusstseinsreduzierten Zustand. Sie können sich später nicht daran erinnern. Viele der Betroffenen sind chronisch krank, kommen aus gestörten Familien und sind durch Misshandlungen traumatisiert.

Mütter, die ihre eigenen Kinder attackieren

Beim Münchhausen-Syndrom, einer seltenen Sonderform der artifiziellen Störungen, kommen narzisstische Züge hinzu. Diese Kranken kennzeichnet das pathologische Krankenhaus-Wandern und die soziale Entwurzelung. Sie seien nahezu nicht behandelbar, sagt Eckhardt-Henn.

Besonders tragisch sind Fälle, in denen Mütter ihre Kinder schwer verletzen statt sich selbst. „Wenn eine Mutter ihrem Kind die Halsschlagader abdrückt, um einen epileptischen Anfall hervorzurufen, ist das schlimm und ausgesprochen gefährlich“, betont die Medizinerin. Beim sogenannten Stellvertreter-Syndrom muss das Kind die Störung der Mutter austragen.

„Die Kinder schützen ihre Mutter oft, weil sie an sie gebunden sind“, erklärt die Expertin. Die meisten Kranken mit diesem Syndrom sind nicht zu therapieren, weil sie nicht erreichbar sind. Sie leugnen hartnäckig die Manipulationen an ihren Kindern und brechen die Behandlung ab, wenn sie mit dem Verdacht konfrontiert werden.

Die Therapie der Betroffenen beginnt mit einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Vorsichtig, nicht anklagend sollte über die Störung gesprochen werden. „Der Arzt lässt den Patienten wissen, dass er tatsächlich unter einer schweren Erkrankung leidet, es sei jedoch eine andere Krankheit, als der Patient vorgibt“, erklärt der amerikanische Psychiater Marc Feldman.

Zur Behandlung gehören unterstützende Psychotherapie und Medikamente entsprechend der Störung. Die Rückfallquote ist sehr hoch, da die meisten Patienten ihr gesamtes Leben auf vorgetäuschtes Kranksein eingestellt haben.

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