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Von Unruheständlern und Seniorstudenten

Meldung vom 01.03.2008 - Der gesellschaftliche Wandel lässt Deutschland nicht so alt aussehen wie befürchtet

Die alternde und schrumpfende Gesellschaft wird in Zukunft vor allem den Arbeitsmarkt vor Herausforderungen stellen. Allerdings werden sich einige Probleme von alleine lösen, glauben Experten: Ältere gut ausgebildete Arbeitnehmer erobern dank ihrer zum Teil überlegenen Fähigkeiten bestimmte Branchen zurück, während bildungshungrige Senioren andere Bereiche mit ehrenamtlichem Engagement abdecken. Und auch für das produzierende Gewerbe gibt es Lösungsansätze: Hier könnte mehr Abwechslung und Weiterbildung die körperliche Belastung der Mitarbeiter verringern, so dass sie ebenfalls bis ins Alter leistungsfähig bleiben.

Deutschland altert. Bereits im Jahr 2050 wird wohl jeder dritte der dann noch knapp 69 Millionen Deutschen älter als 65 Jahre sein. Bei vielen ruft dieser Wandel ein ungutes Gefühl hervor: Wenn so viele Menschen nicht mehr aktiv im Arbeitsleben stehen, so die bange Frage, wer soll dann deren Renten bezahlen? Wie kann die Wirtschaft wachsen, wenn die Gesellschaft schrumpft? Und wie soll man die Ausbildung junger Menschen finanzieren, wenn doch die Renten einen Großteil der Mittel verschlingen?

Die alternde Gesellschaft könnte tatsächlich zum Problem werden – jedenfalls dann, wenn Strukturen und Bedingungen so bleiben, wie sie heute sind. Doch das ist unwahrscheinlich, berichtet das Magazin "bild der wissenschaft" in seiner März-Ausgabe: Zusammen mit dem demografischen hat nämlich bereits ein gesellschaftlicher und struktureller Wandel begonnen, der sich weiter fortsetzen und in vielen Lebensbereichen für Entspannung sorgen wird.

Das gilt vor allem für den Arbeitsmarkt, wo sich der schon jetzt spürbare Fachkräftemangel weiter verschärfen wird. Doch was zuerst einmal nach einer Krise klingt, ist gleichzeitig eine Chance für ältere, gut ausgebildete Arbeitnehmer – und für die Arbeitgeber. Denn ältere Mitarbeiter sind keinesfalls reine Lückenbüßer, weiß etwa der schwäbische Unternehmer Otmar Fahrion aus eigener Erfahrung zu berichten: Er stellt in seinem auf die Planung von Fabriken spezialisierten Büro gezielt Ingenieure zwischen 50 und 65 Jahren ein, weil sie mit vielen Aufgaben besser zurechtkommen als jüngere.

Bei komplexen Projekten punkten sie etwa mit ihrer Erfahrung, und ihre reifere Persönlichkeit lässt sie schwierige Situationen gelassener angehen. Auch ihre Flexibilität steht der jüngerer Arbeitnehmer meist in nichts nach – im Gegenteil: Da sie Hausbau und Kindererziehung häufig bereits abgeschlossen haben, können sie sich voll auf die Arbeit konzentrieren und stehen auch bereitwillig für Auslandseinsätze zur Verfügung.

Dieses Potenzial könnte sogar noch intensiver genutzt werden, glauben Forscher wie James Vaupel, Direktor am Max-Planck-Institut für Demografische Forschung in Rostock. "Es wäre viel gewonnen, wenn die starre Dreiteilung aufgebrochen werden könnte, die das Lernen in der ersten Lebensphase, das Arbeiten in der Lebensmitte und die Freizeit in den späteren Jahren konzentriert", erklärt er. Er plädiert für eine Art Lebensarbeitszeitkonto, das von jedem einzelnen individuell gestaltet werden kann.

Wer etwa als junger, ungebundener Mensch bereits sehr viel Arbeitszeit "einzahlt", kann sich später eine Auszeit nehmen – oder aber im Alter früher aufhören zu arbeiten, ohne Abstriche bei der Rente machen zu müssen. Umgekehrt kann derjenige, der sich in jüngeren Jahren auf die Kinderbetreuung konzentriert hat, die fehlende Zeit im Alter nachleisten und braucht ebenfalls keine Einschnitte beim Altersruhegeld zu fürchten.

Dieses Modell kann allerdings nicht unbesehen für jede Branche übernommen werden. Probleme gibt es beispielsweise dort, wo harte körperliche Arbeit geleistet werden muss – etwa bei Bergleuten, Maurern oder Fließbandarbeitern. Viele von ihnen zeigen schon mit 50 Jahren so starke Verschleißerscheinungen, dass an ein erhöhtes Arbeitspensum im Alter überhaupt kein nicht zu denken ist.

Doch auch hier kann mehr Flexibilität helfen, glauben Experten. Der Autohersteller BMW testet momentan ein Modell, bei dem ein Team ein ganzes Fahrzeug montiert. Der Vorteil: Die Arbeit ist abwechslungsreicher und damit weniger belastend. "Wir empfehlen zudem, schon bei den jüngeren Arbeitern die Produktivität durch häufigen Wechsel der Belastungen und durch Weiterbildung zu erhalten. Dann können sie später auch anspruchsvollere Aufgaben bewältigen, die abwechslungsreicher sind", erklärt der Arbeitspsychologe Ekkehart Frieling von der Universität Kassel, der unter anderem das BMW-Modell untersucht.

Überhaupt wird Bildung in den kommenden Jahren eine immer größere Rolle spielen, glauben Forscher. Denn die "Alten der Zukunft" bekommen ein sehr viel höheres Bildungsniveau mit als die Generationen vor ihnen: Während in der heutigen Seniorengeneration nur jeder Zehnte das Abitur gemacht hat, sind es unter den Jahrgängen aus den Sechzigern bereits dreißig Prozent, Tendenz steigend. Damit einher geht ein wahrer Bildungshunger, der sich zum Beispiel bei den Volkshochschulen und den Universitäten bemerkbar macht.

Das hat wiederum einen interessanten Nebeneffekt, berichtet "bild der wissenschaft": Die von den älteren Studierenden mit Vorliebe belegten Fächer – Geschichte, Theologie und Kunstgeschichte – machen vielen Lust auf gesellschaftliches Engagement, nicht nur in den klassischen Bereichen, sondern auch in ganz neuen Feldern. In Heidelberg etwa betreuen studierende Senioren das Museum der Universität oder kümmern sich um ausländische Gastwissenschaftler. In Zukunft, davon sind Experten überzeugt, wird dieses noch kaum genutzte Potenzial eine der treibenden Kräfte der Gesellschaft werden – und die aktiven "Unruheständler" werden statt der befürchteten Last ein wertvoller Aktivposten.

Antonia Rötger: "Deutschland im Unruhestand", bild der wissenschaft 3/2008, S. 62

wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel




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